Daniel Schürer

Der Konzeptkünstler Daniel Schürer folgt einem »gastlichen« Kunstbegriff, für den er, ausgehend von seinem ersten Kunstraum Via113 (Gründung 1993 in einer ehem. Schusterei), leerstehende Einkaufspassagen, Räuchereien, Treppenhäuser, Hopfendarren, Bahnhöfe, Parkhäuser, Kasernen, Stallungen oder Verlagsgebäude u.v.m. zu vitalen Kunstorten auf (un/bestimmte) Zeit umwidmet.

Das Publikum permutiert von der Betrachter:innenrolle zu Gästen und Teilnehmer:innen seiner Interventionen, das Verweilen und das Zusammenkommen sind die Gradmesser seiner meist installativen und raumgreifenden Einlassungen. Diese richten sich u. a. als Kloster, als Tanzboden, als Speiselokal, Café oder Hotel, Musik-Club, Radiostation, Zeitungsverlag, fiktive Firma, Werft an die Öffentlichkeit.

Verhandelt werden an diesen temporär etablierten Kunsträumen soziale Themen »wie das ›Nichts‹, die ›Gemeinschaft‹, das ›Miteinander‹ und damit Verbunden das ›Gegeneinander‹, gelegentlich in Worten, oft spielerisch«, so schreibt der Künstler.  Geradezu performativ agiert er seit Anfang der 1990er Jahre von der Via113 in Hildesheim aus intermedial als Gründer und Betreiber verschiedenster Vermittlungsformate – die im weitesten aber auch engsten Sinne »Kunstvereine« sind – und hat nomadisch im Bundesgebiet (Hildesheim, Heudeber-Danstedt, Bonn, Weimar, Hannover, München, Bad Ems u. a.) und europaweit (Porto, Brüssel, Isle of Skye, Banska Stiavnica, Luxemburg u.a.) »Außenstellen« errichtet und teils über Jahrzehnte bespielt, um nun im kleinen Dorf Reusten (Neckar-Alp Kreis, 14km von Tübingen) Randlagen kulturell mit dem Süddeutschen Kunstverein und dem Bergcafé zu »versorgen«, in und mit der Region sein künstlerisch-kuratorisches Angebot zu realisieren.

Schürers Ansatz darf auch humanistisch gelesen werden, sein Vermittlungsvermögen und- wille schaffen es, die durchaus komplexen Bezüge seiner Arbeit ohne Ausgrenzung zu adressieren, so dass Eröffnungen seiner umfänglichenen Projekte z. T. Volksfesten ähneln, wo kunstnahe und -ferne, junge und alte Gäste (mit einfachen, äußerst schmackhaft zubereiteten Speisen begleitet) zusammenfinden. Der rastlose, bescheidene und nahbare Kulturarbeiter wird den Kunstraum für die Dauer seines Projektes transformieren, ob zu einem Club, einem Gasthaus oder einer Herberge, ob zu einem Labor für Kolleg:innen, einem Verein oder einer Firma? Vielleicht dann doch ein Kloster, sein Kloster, Mosteiro Schuerer, wie der Titel des Projektes vermuten lässt. Elementar für ihn ist, am Ort seiner Handlung zu verweilen, ein Programm anzubieten, Kolleg:innen einzuladen, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten, in Kontakt zu kommen, Gemeinschaft zu generieren, Stille auszuhalten. Fakt ist, dass sich die Gäste bzw. Besucher:innen seiner Projekte willkommen fühlen dürfen und sich andeutet, wie weit die Aussage »ganzheitliches künstlerisches Handeln« reicht, wie Kunst und Leben zusammengehen, »wie Scheitern und Reüssieren andersartig wahrgenommen  werden können«, so der Künstler weiter. Das Projekt macht sicht- und erlebbar, wie unterschiedlich das Modell Kunstverein praktiziert werden darf und welche »Ergebnisse« dieser Einsatz in Personalunion zeitigen können.

Nachdem er 2006 bereits für die Ausstellung »Glauben und Wissen« in der Galerie der Künstler:innen mit »Via113 zu Gast  in München« in der Landesmetropole weilte, wird Schürer fast 20 Jahre später nun im Kunstraum München erneut Gast und Gastgeber sein.

Einladungskarte | Grafik: Daniel Schürer u. Niklas Hlawitschka

Daniel Schürer (*1965 Biberach a.d. Riss) wuchs in Cannobio (I) auf, ging in Locarno (CH) zur Schule, studierte nach Beginn einer Ausbildung zum Sommelier in Triberg und Wechsel an die Tanz-Theaterschule Imperia (I) von 1991-98 Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim. Er gründete und leitete von 1992 -2024 den Kunstverein Via113 mit diversen Außenstellen. 1999-2000 Ausstellungsraum L’Ost1999, Weimar. 2000-2024 Mosteiro Schuerer, Porto (PT), seit 2009 Süddeutscher Kunstverein, Reusten. Der Künstler hat weitere Projektrahmen entwickelt und eröffnet, z. B. ICAI, Skye, Schottland (UK), BBB-Brüssel-Bagdad-Berlin, Brüssel (BE), Hotel Weisses Rössel, Reusten, KAPELLE, Bonn und Brüssel, Bergcafé Reusten, CLAP/Porto (PT). Er erhielt diverse Arbeits- und Aufenthaltsstipendien (u. a. Jahresstipendium Land Niedersachsen, Schloss Balmoral, MQ Artist-in-Residence Programm, Wien, AT) und setzte national wie international Projekte mit institutioneller Anbindung um (u. a. Kunstverein Hannover, Kunsthalle Mainz, XXIII Bienal Internacional de Arte de Cerveira, Porto (PT), Konschthaus beim Engel, Luxemburg (LU), space, Bratislava (SVK).

Kuratiert von Alexander Steig

Die Ausstellung wird gefördert durch eine großzügige Mitgliedsspende und die Finbridge GmbH & Co KG.

[Buchvorstellung] Heidi Mühlschlegel: Frau S. und ihr Mann

Die Ausstellung »Heidi Mühlschlegel: Frau S. und ihr Mann« war während der Pandemiezeit 2019/20 im Kunstraum nur unter Einschränkungen zu sehen gewesen. Die Publikation macht die Ausstellung nun noch einmal in anderer Form präsent.

Heidi Mühlschlegel arbeitet in ihren Werken (Zeichnung, Malerei, Plastik, Installation) häufig mit den Prinzipien von Schichtung und Überlagerung. Materialien wie Bildmotive werden wiederverwendet, übermalt oder übernäht. Es entsteht ein bezugreiches Bedeutungsgeflecht, das sich in den Werken immer wieder neu entfaltet.

Wir freuen uns, die Publikation nun vorstellen zu können. Die Künstlerin und die Kuratorin der Ausstellung 2019, Daniela Stöppel, sind anwesend. Während der Präsentation ist die Publikation zu einem Sonderpreis erhältlich.

Heidi Mühlschlegel: Frau S. und ihr Mann
München: Kunstraum München 2024. Hrsg. von Daniela Stöppel f. d. Kunstraum München. Text von Daniela Stöppel. Gestaltung: Maximilian Westphal. Dt./Engl. 36 Seiten. 18 farbige Abb. 24 x 21 cm. Softcover. 19,- Euro.

ISBN 978-3-948754-01-3

Zur Publikation erscheint eine limitierte Edition, die als Vorzugsausgabe erhältlich ist.

[Sommerateliers]

Dieses Jahr bietet der Kunstraum sein Ober- und Erdgeschoss erneut zwei Gästen gleichzeitig als Sommeratelier an. Das mittlerweile traditionelle Format ermöglicht lokal agierenden Künstler:innen, den Kunstraum München während seiner Sommerpause als Arbeitsraum zu nutzen. Am Ende der einmonatigen Residenz gibt es im Rahmen eines Open Studios die Gelegenheit, Einblicke in die Arbeit der Künstler:innen zu erhalten.

Das Foto zeigt den Künstler Florian Donnerstag neben einer seiner Arbeiten, eine großformatige Malerei.
Foto: Florian Donnerstag

Der aus Salzburg stammende und in München lebende Künstler Florian Donnerstag hat 2015 sein Studium der Architektur an der Universität Innsbruck abgeschlossen und anschließend an der Akademie der Bildenden Künste München mit Ernennung zum Meisterschüler in der Klasse Markus Oehlen Malerei studiert und wurde 2024 in der Klasse von Andreas Breunig diplomiert. Der Künstler betrachtet sich als Maler, arbeitet jedoch auch multimedial. Für Florian Donnerstag sind Gesten, Zeichen und Motive inhaltlich variable Konstrukte. Sein zentrales Anliegen ist es, diese vollständig aufzubrechen und als bedeutungslos darzustellen. Während des vierwöchigen Sommerateliers plant Florian Donnerstag einen großformatigen Werkzyklus zu entwickeln.


Das Foto zeigt die Künstlerin bei der Tonaufnahme von Kirchenglocken.
Foto: Sven Zellner

Christiane Huber ist Künstlerin, Autorin und Regisseurin. Sie studierte Psychologie in München und bildende Kunst/Sound-Art am Bard College in New York. Ihre künstlerische Praxis umfasst unterschiedliche Medien wie Theater, Performance, Text und Film. In ihren aktuellen Arbeiten beschäftigt sie sich mit Grenzen, Krieg, Gewalt, Traumata und legt einen besonderen Fokus auf die Lücken und Auslassungen in den Erzählungen derselben. Dafür erstellt sie z. B. seit 2018 ein Oral History Archiv zu Zwangsarbeit in der Landwirtschaft während der NS-Zeit. Aktuell recherchiert Christiane Huber im Białowieża-Nationalpark und führt Gespräche an der Grenze zwischen Polen und Belarus. In ihrer Sommerresidenz wird sie an einem Drehbuch und einer Komposition für Audiostationen arbeiten. Dabei sucht sie nach verschiedenen Formaten der akustischen Annäherungen an Orte von NS-Opfern und NS-Täter:innen.


Programm

Donnerstag, 29. August 2024

18 Uhr: Werkstattgespräch mit Christiane Huber und Ralf Homann
19 Uhr: Open Studio mit Florian Donnerstag

geänderte Öffnungszeit: bis 22 Uhr

Tom Moody

»… Der Computer ist ein Werkzeug – keine Magie – und er hat seine eigenen tragikomischen Grenzen, bietet aber auch neue Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten. Mich fasziniert die Idee, mit diesem Gerät eine Art fortschrittliche Kunst zu schaffen… Gleichzeitig fühle ich mich zum »Cyber-Kitsch« in all seinen Formen hingezogen: seien es alte Programme wie MS-Paintbrush, Amateur-Bilder, die es im Internet gibt oder die unbeabsichtigte Poesie technischer Pannen. Meine Arbeit bewohnt auch stolz das Universum des »Lo-Fi« oder das »Abject«-Ende des digitalen Spektrums.« Tom Moody 

Der amerikanische Medienkünstler, Musiker, Blogger und Kunstkritiker Tom Moody (1955–2022) war eine einflussreiche Schlüsselfigur auf dem Gebiet der Netzkunst. Sein Enthusiasmus und sein Engagement für diese Kunstform führten dazu, dass er mehr als zwanzig Jahre lang über ihre demokratischen Möglichkeiten bloggte und ein wichtiges Archiv der frühen Kunst im Internet schuf. Moody veröffentlichte auch eigene Kunstwerke, Musik und Texte online – von 2001 bis 2007 im Blog-Kollektiv Digital Media Tree und dann bis 2022 auf seiner Webseite und seinem Blog, auf denen er außerdem über theoretische und Netzkunst-Themen wie NFTs und Glitch Art schrieb bzw. diese kommentierte. Durch seine Beiträge in verschiedenen Internet-Surfclubs, darunter Nasty Nets, Computers Club und dump.fm, wurde Moody Teil eines Netzwerks mit Netzkünstler:innen wie Olia Lialina, Petra Cortright und Ryder Ripps.

Moodys Arbeiten haben eine Lo-Fi Ästhetik, die auf die von ihm verwendeten Werkzeuge zurückzuführen ist: alte Software, die manchmal als »Abandonware« bezeichnet wird, wie z. B. Microsoft Paintbrush. Zusammen mit Künstler:innen wie Lorna Mills und JODI gehörte er zu den ersten, die animierte GIFs als künstlerisches Medium verwendeten.

Die Ausstellung zeigt eine Auswahl von Moodys GIFS und elektronischer Musik aus den letzten zwei Jahrzehnten, darunter auch neuere Werke, die er vor seinem frühen Tod an den Folgen von Covid im Jahr 2022 geschaffen hat.

www.tommoody.us

»… The computer is a tool, not magic, and possesses its own tragicomic limitations as well as offering new means of expression and communication. I am intrigued by the idea of making some kind of advanced art with this apparatus… At the same time, I am drawn to »cyber-kitsch« in all its forms, whether in old programs such as MS-Paintbrush, the amateur imagery that abounds on the Web, or the unintended poetry of technical glitches. My work proudly inhabits the »lo-fi« or »abject« end of the digital spectrum.« Tom Moody 

American media artist, musician, blogger, and art critic Tom Moody (1955–2022) was an influential and key figure in the field of net art. His enthusiasm and dedication to the art form led him to blog about its democratic possibilities for more than twenty years, producing an important archive of early art on the Internet. Moody also published his own artwork, music, and writing online—from 2001–2007 on the blog collective Digital Media Tree and then until 2022 on his own webpage and blog, where he also wrote about and commented on theoretical and net art topics such as NFTs and glitch art. Through his posts in various Internet surf clubs, including Nasty Nets, Computers Club, and dump.fm, Moody joined a network of other net artists that included Olia Lialina, Petra Cortright, and Ryder Ripps.

Moody’s work has a lo-fi aesthetic due to the tools he used: old software, sometimes referred to as »abandonware«, such as Microsoft Paintbrush. Alongside artists such as Lorna Mills and JODI, he was among the first to use animated GIFs as an artistic medium.

This exhibition features a selection of Moody’s GIFS and electronic music from the last two decades, including recent works created before his untimely passing from Covid complications in 2022.

www.tommoody.us

Die Ausstellung wird kuratiert von Courtenay Smith  | curated by Courtenay Smith

Programm

Samstag, 21. Dezember 2024, 19 Uhr (Einlass)

EQUINOX – die Musiker treten in Interaktion mit den animated GIFs von Tom Moody

im Anschluss führt die Kuratorin der Ausstellung Courtenay Smith in die Arbeit des 
Künstlers ein.

»… Der Computer ist ein Werkzeug – keine Magie – und er hat seine eigenen tragikomischen Grenzen, bietet aber auch neue Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten. Mich fasziniert die Idee, mit diesem Gerät eine Art fortschrittliche Kunst zu schaffen…«, hier treffen sich die Ideen der Musiker:innen mit denen Tom Moodys. Auch sie setzten sich mit alten, zur damaligen Zeit technisch modernen Sound-Erzeugern auseinander, ergänzt durch analoge Instrumente. Die animierten Objekte mit ihrer pulsierenden Lebendigkeit werden zum rhythmusgebenden Element der Musik. Aus zyklischem Puls, der Kunst, dem Raum, den anwesenden Menschen und der Technik entsteht in der Improvisation ein Zusammen-Spiel, als offenes Experiment. EQUINOX das ist improvisierte Musik – inspiriert vom Wandel von Licht und Dunkel – an verschiedenen Orten. Im Hier und Jetzt der Aktion spielt, neben der Musik, der Ort bzw. der Raum und häufig auch die Inszenierung des Raumes eine große Rolle.

Foto: Miriam Mahlberg | © Equinox

Günther Basmann – Octapad SPD-30, Percussion 
David Jäger – Sopransaxophon, Bassklarinette 
Stefan Stefinsky – Supernova II, Tenorsaxophon

Anne Quirynen und Sandra Schäfer

»Tracing Echoes. From Westerwald to Rio Tinto« nimmt uns mit auf eine Zeitreise von der Industrialisierung über die digitale Revolution auf eine Suche nach den Spuren von Bildern aus der Vergangenheit, die bis heute nachklingen und in die Zukunft weisen: Bilder, die bereits existieren, Vorstellungen, die wir haben, und Abbildungen, die durch uns oder die Technik erzeugt werden.

In Videoarbeiten, Fotografien und analytischen Visualisierungen gehen Anne Quirynen und Sandra Schäfer der Frage nach, wie sich eine Region, ihre Landschaft, landwirtschaftliche und industrielle Nutzung im Laufe der Zeit verändert haben. Die multidisziplinären Arbeiten führen von den Minas de Riotinto, einer der ältesten Kupferminen der Welt in Spanien über den Westerwald, in dem August Sanders fotografisches Projekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« seinen Anfang nahm, bis hin zum Planeten Mars.
Im Zusammenspiel von dokumentarischen und technisch bearbeiteten Bildern schaffen Quirynen und Schäfer in »Tracing Echoes. From Westerwald to Rio Tinto« eine visuelle Erzählung über den Einfluss von Technologie und Kapitalismus auf Landwirtschaft, Bergbau und Forschung sowie über deren Darstellungen. Zugleich verfolgen sie die subtilen Pfade verborgener Facetten von (Gender-)Ungleichheit, Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf körperliche Arbeit und Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, die dabei zum Vorschein kommen.

Welche Spuren tragen die Landschaften von den Menschen, die dort leb(t)en? Durch welche Praktiken der Forschung, Nutzung und Besiedelung schreiben/schrieben sich die Menschen in diese ein? In welchem Verhältnis stehen industrielle Ausbeutung und wissenschaftliche Auswertung? Wie und worin resonieren die Landschaften in den Bildern nach, die es von ihnen gibt und die generiert werden? Welche realen Szenarien bilden sie ab und welche spekulativen Utopien legen sie offen?

Die Ausstellung wird kuratiert von Lena von Geyso

Anne Quirynen lebt und arbeitet als Künstlerin in Berlin. Sie arbeitet an der Schnittstelle von digitalem Bewegtbild, Installation, Musik und Tanz und beschäftigt sich mit der Medialisierung von Körper, Ökologie und queerfeministischen Praktiken. Seit ihren frühen Arbeiten verwendet sie digitale Effekte, um die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeiten von digitalen Bildern und Sounds zu thematisieren. Ihre aktuellen Arbeiten reflektieren ökologische Folgen von Rohstoffextraktion und daraus folgende soziale, historische und ästhetische Transformationen. Derzeit ist sie Professorin für Bewegtbild im Studiengang Europäische Medienwissenschaft in Potsdam. 

Sandra Schäfers künstlerische Praxis beschäftigt sich mit den Herstellungsprozessen von städtischen und transregionalen Räumen, Geschichte und Bildpolitiken. Häufig entstehen ihre Arbeiten entlang von Recherchen, in denen sie sich mit den Rändern, Lücken und Diskontinuitäten unserer Wahrnehmung von Geschichte, politischen Kämpfen, urbanen, ländlichen und geopolitischen Räumen auseinandersetzt. Schäfer ist Professorin an der Akademie der Bildenden Künste München und assoziiertes Mitglied des feministischen Filmverleihs Cinenova in London. Aktuell ist sie Co-Leiterin des künstlerisch-philosophischen Forschungsprojekts »DisIgnorance – Sehen im Rassistischen Nebelfeld« im Rahmen des Forschungsverbunds ForGeRex (2024–2027).

Führung und Gespräch in der Ausstellung mit den Künstlerinnen

Lange Nacht der Münchner Museen

Finissage mit einem Gespräch zwischen Sandra Schäfer und Dr. Simone Förster
Sammlungsleiterin der Stiftung Ann und Jürgen Wilde an der Pinakothek der Moderne (Sammlung Moderne Kunst)

In der Videoinstallation »Westerwald: Eine Heimsuchung« (2021), die im Untergeschoss des Kunstraum gezeigt wird, begibt sich Sandra Schäfer auf Spurensuche im Westerwald. Dabei nimmt sie Bezug auf den Fotografen August Sander, der ab 1910 die Landschaft und die Menschen der Region dokumentierte und auch Schäfers Ururgroßtante mit ihrem Ehemann porträtierte. Das Bild von 1912 trägt den Titel »Bauernpaar – Zucht und Harmonie« und eröffnet Verbindungen zu Sanders Projekt »Menschen des 20. Jahrhunderts«, das er ab den 1920er-Jahren begann und das seine Bedeutung für die Fotografiegeschichte begründete. Die Installation zeigt auf einem Kanal Schäfers Annäherungen an Verwandte und Nachbar:innen sowie Besuche in Museen und Sammlungen, in denen die Entstehung und Bedeutung des Porträts thematisiert werden. Auf einem zweiten Kanal werden diese Szenen durch Bilder moderner, automatisierter Landwirtschaft kommentiert.

Ein Originalabzug des Porträts »Bauernpaar – Zucht und Harmonie« befindet sich heute in der Stiftung Ann und Jürgen Wilde in der Pinakothek der Moderne in München.

Anhand der Videoarbeit diskutieren Simone Förster, Sammlungsleiterin der Stiftung Ann und Jürgen Wilde, und Sandra Schäfer verschiedene Zugänge zum Porträt im Spannungsfeld zwischen privat-persönlichen und kunsthistorisch-musealen Kontexten. Dabei werden Hintergründe, Deutungen und die Bedeutungsvielfalt des Porträts sowohl für die Porträtierten und ihre Nachfahren als auch im Kontext von Sanders Werk und den künstlerischen Ansätzen von Schäfer beleuchtet.

Das Gespräch wird von Lena von Geyso moderiert.

Simone Förster ist Fotografiehistorikerin und seit 2009 Kuratorin an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München, wo sie als Sammlungsleiterin die Stiftung Ann und Jürgen Wilde an der Pinakothek der Moderne betreut. 2006 promovierte sie an der TU Berlin zur Architekturfotografie der 1920er Jahre. Ihr Forschungsinteresse umfasst die Theorie der Fotografie, Mediengeschichte und zeitgenössische Fotokunst. Sie hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert, darunter »Florence Henri. Compositionen« (2014), »Karl Blossfeldt. Aus der Werkstatt der Natur« (2015) und »Alfred Ehrhardt. Wind, Sand und Wasser« (2024) und Publikationen veröffentlicht. Zudem war sie Co-Kuratorin der interdisziplinären Neuhängung der Sammlung Moderne Kunst »Mix & Match« zum 20-jährigen Jubiläum der Pinakothek der Moderne (2022–2025).

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Dates: September 7 – October 20, 2024

Curated by Lena von Geyso

The exhibition »Tracing Echoes. From Westerwald to Rio Tinto« takes us on a journey through time, from the industrial to the digital revolution, in search of traces of images from the past that continue to resonate with us today and point to the future: pictures that already exist, perceptions that we have, and renderings that are created by us or by technology.

In video works, photographs, and analytical visualizations, Anne Quirynen and Sandra Schäfer explore the question of how a region, its landscape, industrial and agricultural uses have changed over time. The multidisciplinary works lead us from the Minas de Riotinto in Spain, one of the oldest copper mines in the world, through Westerwald, Germany, where August Sander initiated his photographic project »Menschen des 20. Jahrhunderts« (People of the Twentieth Century), to the planet Mars.
In »Tracing Echoes. From Westerwald to Rio Tinto«, Quirynen and Schäfer combine both documentary and technically edited images to create a visual narrative about the influence of technology and capitalism on agriculture, mining and science as well as their depiction. In the process, they trace the subtle path and hidden facets of (gender) inequality, the effects of artificial intelligence on physical labor, and questions of social justice.

What traces do landscapes bear of the people who live(d) in them? Which practices of research, use, and settlement do people use to inscribe themselves into/onto these landscapes? What is the relationship between industrial exploitation and scientific evaluation? How and in what ways do landscapes resonate in the images that exist of them and are generated by them? What realistic scenarios do they depict and what speculative utopias do they reveal?

Anne Quirynen is a Berlin-based artist who works at the intersection of digital imagery and sound, installation, music, and dance and deals with the medialization of the body, ecology, and queer-feminist practices. From the beginning, she has used digital effects to thematize the indeterminacy and ambiguity of digital images and sounds. Her current work reflects on the ecological consequences of raw material extraction and the social, historical, and aesthetic transformations as a result. She is currently Professor of Media Design and Moving Image in the European Media Studies program at the University of Applied Sciences in Potsdam.

Sandra Schäfer’s artistic practice is concerned with the production processes of urban and trans-regional spaces, history, and image politics. Her works are often the result of exploratory research into the margins, gaps, and discontinuities in our perception of history, political struggles, urban, rural, and geopolitical spaces. Schäfer is a professor at the Academy of Fine Arts Munich and an associate member of the feminist film distributor Cinenova in London. She is currently codirector of the artistic-philosophical research project »DisIgnorance – Sehen im Rassistischen Nebelfeld« (DisIgnorance – Seeing through the Racist Fog) as part of the ForGeRex research network (2024–2027).

Guided tour and talk in the exhibition with the artists

The Long Night of Munich Museums

Finissage with a conversation between Sandra Schäfer and Dr. Simone Förster
Head of Collection of the Ann and Jürgen Wilde Foundation at the Pinakothek der Moderne (Modern Art Collection):

Foto: Thomas Splett


[Gastprojekt] Silvia Cini

Die Performance-Reihe En plein air, präsentiert ESTRANEE, eine Aktion im Rahmen des Projekts »Avant que nature meure« von Silvia Cini, Gewinnerin des Italian Council 2022.

In München wird Silvia Cini mit Unterstützung von Expert:innen einen Teil der Spontanvegetation auf einem naturbelassenen städtischen Gelände analysieren, welches sie anschließend klassifiziert und kartografiert. So entsteht eine Übersicht zur Population der Pflanzen in München.
ESTRANEE hebt die geschichtete Ansammlung von Pflanzenarten hervor, die die Landschaft prägen. Zentrale Thematik ist die Betrachtung städtischer Natur als Metapher, einerseits für soziale – andererseits für ökologische Phänomene. Im Rahmen dieser von der Künstlerin über die Jahre fortgeführten Tätigkeit, werden gebietsfremde Pflanzen zu Trägern einer unvermeidlichen biologischen und sozialen Transformation. Darüber hinaus wird die urbane Natur auch als Bioindikator für das soziale Leben einer Stadt untersucht. Durch die Markierung der nicht-heimischen Pflanzen wird die Praxis der Kategorisierung kritisch befragt und problematisiert.

Interessierte sind herzlich eingeladen, an dieser Aktion teilzunehmen.

Silvia Cini war Mitbegründerin der Gruppo Immagine und arbeitete mit Keith Haring bei der Realisierung des Wandgemäldes »Tuttomondo« in Pisa zusammen. 1994 gründete sie gemeinsam mit Salvatore Falci die AAVV-Gruppe in Mailand und arbeitete mit Cesare Pietroiusti an Projekten wie »DisorsordinAzioni«, »Il Gioco del Senso e Nonsenso«, (XII Quadriennale di Roma) und der »Oreste Group«, mit der sie an der 48. Biennale von Venedig teilnahm. 2000 erhielt sie den Atelierpreis von Fabio Mauri in der Galleria Comunale d’Arte Moderna Rom, heute bekannt als MACRO; 2004 wurde ihr von der Stadt Genua anlässlich der Auszeichnung als Kulturhauptstadt Europas durch das Museum Villa Croce der Duchessa Galliera-Preis verliehen. 2022 war sie eine der Gewinnerinnen der elften Ausgabe des Italian Council – AMBITO 1.

Kuratiert von Emily Barsi

Programm:

Stadtworkshop
Samstag, 4. Mai, 15 Uhr bis 17:30 Uhr

(Neuer) Treffpunkt
Haltestelle »Am Tucherpark« (Buslinie 54)
Der Bus 54 fährt vom U-Bahnhof Giselastraße (Ausgang »D« – Martiusstraße) in fünf Minuten nach »Am Tucherpark«. Von dort gehen wir in der Gruppe zu Fuß ca. 10 Minuten. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten. Fahrräder können in der Nähe der Bushaltestelle abgestellt werden.

Visuelle Umsetzung
Vom 31. Juli bis 2. August findet in den Räumen des Kunstraum München eine visuelle Umsetzung des Stadtworkshops vom 4. Mai statt.

Der Kunstraum München – En plein air ist eine der internationalen Bühnen von Silvia Cinis Projekt »Avant que nature meure«, das dank der Unterstützung des Italian Council (XI. Ausgabe, 2022), einem Programm des italienischen Kulturministeriums zur internationalen Förderung der zeitgenössischen italienischen Kunst, realisiert wird. Das Projekt wird vom Museo Orto Botanico der Universität »La Sapienza« in Rom, in Zusammenarbeit mit CareOf, Fondazione Lac o Le Mon, Hellenische Gesellschaft für Naturschutz, Stiftung Ungarisches Gartenerbe, MAMbo, Museu da Amazonia und PAV Parco Arte Vivente veranstaltet.

ESTRANEE ist Teil der Various Others Spring Edition 2024

[Buchvorstellung] RAND Verena Hägler und Nicola Reiter

RAND vereint zwei Projekte aus dem Bereich der Landschaftsfotografie. Gegenstand beider Arbeiten sind die sich entwickelnden und verändernden (Landschafts-)Räume entlang der Stadtgrenze von München.

Verena Hägler nimmt mit SALTROAD fotografisch einen verkehrsbelasteten, im Wandel begriffenen Transitraum in landwirtschaftlich genutzter Umgebung in den Blick. Die fotografischen Fragmente ergeben ein Mosaik, das auf das umfassendere Gepräge der Gegend verweist.

Nicola Reiter beschäftigt sich in Agglomerationen mit dem Rand der Großstadt als einem Gebiet des Übergangs von urbanen Strukturen zur offenen Landschaft. Mit der Kamera hat sie München entlang der Stadtgrenze umrundet. Ihre eigenen Bildfolgen ergänzt sie durch historische Aufnahmen, die drastische Veränderungen sichtbar machen.

Verena Hägler ist Fotografin und beschäftigt sich mit empirischer Stadtforschung. Nicola Reiter arbeitet als (Buch-)Gestalterin und publiziert eigene Projekte.

Am 9. Juni 2024 um 16:00 Uhr präsentieren die beiden Künstlerinnen ihre Publikation im Rahmen einer Lesung und eines Gesprächs mit Lena von Geyso und stellen das Projekt in einer eintägigen Ausstellung vor. Das eigens für den Raum entwickelte Ausstellungsdisplay mit großformatigen Prints und einer Slideshow vermittelt einen Eindruck der fragmentarischen, prozesshaften Arbeitsweise beider Künstlerinnen.

RAND
Leipzig: Spector Books, Nov. 2022. Hrsg. von Verena Hägler und Nicola Reiter. 208 Seiten. 50 s/w Abb., ca. 450 farbige Abb.. 23 x 30 cm. 3 Hefte in einer Klappenbroschur. Auflage: 750. Edition Nummer: 1

ISBN 9783959055789

Das Projekt wurde unterstützt von der C.H. Beck-Stiftung, der Volkart Stiftung und der Erwin-und-Gisela-Steiner Stiftung.

Neringa Vasiliauskaitė

Neringa Vasiliauskaitė entwickelt für den Kunstraum München einen Zyklus neuer raumbezogener Arbeiten, die an Erinnerungsmomente ihrer Kindheit anknüpfen. Die vielschichtigen und mehrdeutigen Werke, sowohl an der Wand als auch im Raum verteilt, fungieren als Metaphern für wiederkehrende alltägliche Rituale und untersuchen die Transformation von verschiedenen Aggregatzuständen, Zeitsträngen sowie damit verbundenen Emotionen und Bedeutungen.

Die groß- und kleinformatigen Objekte aus bedrucktem Textil auf gepolstertem Untergrund, begossen mit Epoxidharz und eingearbeiteten Elementen aus Holz, lassen die Grenzen und Bedeutung zwischen Innen und Außen verschwimmen und eröffnen ein Spiel zwischen Material(transfer) und Wiederholung, Imitation und Gegensätzlichkeit: Glänzende Oberflächen erinnern an Leder von Möbeln oder an menschliche Haut – ähnlich eines künstlich geschaffenen Körpers; scheinbar harte Oberflächen werden fließend, weiche Oberflächen härten aus oder reproduzieren sich selbst in Form und Textur.

Neringa Vasiliauskaitės Praxis ist beeinflusst von Theorien des Psychoanalytikers Didier Anzieu und des Xenofeminismus. Sie interessiert sich dafür, wie Objekte die Umwelt aufnehmen und diese durch ihre Oberfläche, ihre Haut, reflektieren, als ob sie Informationen aus verschiedenen kulturellen Ebenen und Generationen in sich tragen würden. Inspiriert wird die Künstlerin von Alltagsgegenständen und Formen, die sie in ihrer Umgebung, in der Natur und im öffentlichen Raum wahrnimmt. Dabei experimentiert sie nicht nur mit den Werkstoffen in teils ergebnisoffenen Prozessen; zerlegt oder dekonstruiert Fundstücke, sondern fügt die verschiedenen, oft synthetischen Materialien in neuen Oberflächen und Objekten zusammen. In diese werden persönliche Erinnerungsfragmente der Künstlerin eingearbeitet und mit Motiven von kosmologischen Ordnungen und archetypischen Symbolen verknüpft. Die Kombination verschiedener Träger erschließt Schicht für Schicht die eingeschlossenen Erinnerungen und Erfahrungen, seien sie persönlich, sozial, historisch oder kulturell. Sie werden quasi in ihren verschiedenen Schichten und Geschichten bloßgelegt und ihres Zweckes enthoben, um in ihnen Neues, noch nicht Entdecktes zu finden.

Zentrales Motiv der Objekte sind von Glas umhüllte »Sekretas« sog. »verborgene« oder »eingefrorene« Fundstücke, die einen spezifischen Moment oder Tag aus der Vergangenheit reflektieren. Der Name »Sekretas« geht auf eine Freizeitbeschäftigung von Kindern und Jugendlichen aus Litauen zurück, bei der kleine Gegenstände, wie Blumen, Flaschendeckel oder gefundene Objekte unter Glas oder eine Glasscherbe gelegt und diese mit Erde oder Staub bedeckt wurden. Passant:innen konnten sie zufällig entdecken oder sie verschwanden für immer aus dem Blickfeld. Die »Sekretas« dienen in der Ausstellung als Metapher für innere Räume, für die Verhandlung der Grenze zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen dem Körperlichen, dem Haptischen und dem Digitalen.

»Repetitions & Rituals« lädt dazu ein, die subtile Grenze zwischen Innen und Außen zu erkunden, das Verständnis von Identität und die Beziehung zur digitalen Welt zu reflektieren und eine neue Sensibilität für die Bedeutung von Körperlichkeit und Erinnerung zu schaffen, indem kulturelle Schichten aufgedeckt und durch subjektive Erfahrung betrachtet werden.

Führung mit der Künstlerin und den Kuratorinnen

Gastvortrag und Gespräch zur Ausstellung

PD Dr. Jörg Sternagel, Medienphilosoph, Universität Passau:

»Den Sachen auf den Grund gehen – Zur Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Dinge«

Am Samstag, den 13. Juli um 17 Uhr, laden wir herzlich zu einem Vortrag und Gespräch im Rahmen der aktuellen Ausstellung »Repetitions & Rituals« von Neringa Vasiliauskaitė ein. Zu Gast ist PD Dr. Jörg Sternagel (Medienphilosoph, Universität Passau), der die Ausstellung zum Ausgangspunkt für Überlegungen zum Thema »Den Sachen auf den Grund gehen – Zur Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Dinge« nimmt:

»Wie lässt sich, inspiriert von den Exponaten der Künstlerin Neringa Vasiliauskaité, über Dinge sprechen? Wie können wir über ihre Materialität, Schichtung und Oberflächlichkeit sprechen, und warum lohnt es sich, den Sachen damit auf den Grund zu gehen? In meinem Vortrag nehme ich diese Fragen zum Anlass, um ausgewählte Aspekte einer Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Dinge sowohl in der Ausstellung als auch in unserer Alltagswelt herauszuarbeiten. Dabei geht es zum Beispiel darum, sich zu überlegen, dass zwar etwa eine Schere uns ›leibhaftig‹ gegeben ist, aber doch leblos, physikalisch ›schlicht‹ vor uns liegt. Die Schere bleibt daher als objektives Ding auch unter veränderten subjektiven Bedingungen das, was sie ist, auch wenn sie ›altert‹, indem sie unscharf wird. Ist es so gedacht möglich, einem Gegenstand wie der Schere nachzuspüren, im Nachdenken und Nachvollziehen der jeweils eigenen subjektiven Bedingungen gegenüber diesem objektiven Ding, dem auch etwa seit der Kindheit oder Jugend häufig verwendeten Objekt, das sich nicht verändert hat, auch wenn es Gebrauchsspuren aufweist? Wie haben wir uns verändert? Was ist Gegenstand, Thema, Mittelpunkt unseres Denkens, Schaffens und Schreibens? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit, auf welches Objekt, gar Ziel?«

Jörg Sternagel ist Privatdozent für Medienwissenschaft und lehrt an der Universität Passau. Er ist Mitantragsteller des DFG-Projekts Visuelle Bildung 2022–2025 und des DFG-Netzwerkes für Medienphilosophie 2017–2019 und arbeitet im Beirat der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik und des internationalen Netzwerkes Performance Philosophy. Ausgewählte Veröffentlichungen sind die Monografien »Ethik der Alterität. Aisthetik der Existenz« (2020) und »Pathos des Leibes. Phänomenologie ästhetischer Praxis« (2016) sowie die Mitherausgaben »Denken des Medialen. Zur Bestimmung des Dazwischen« (2024), »Die Gegenstände unserer Kindheit. Denker:innen über ihr liebstes Objekt« (2019) und »Techniken des Leibes« (2016).

Weitere Informationen finden Sie hier

Foto: Thomas Splett

Ksenia Hnylytska

Mit Beiträgen von:

Programm:

Sonntag, 26. Mai 2024, 15 Uhr

Foto: Ksenia Hnylytska, Motiv: Zhanna Kadyrova, Sound: Smezkh

Jeder kennt sie: die kitschig bedruckten Klappkarten, die beim Öffnen eine kurze blechern klingende Melodie abspielen. Die aus Kiew stammende, derzeit in München lebende Künstlerin Ksenia Hnylytska hat dieses Prinzip für ein Projekt adaptiert, welches Arbeiten zeitgenössischer ukrainischer Künstler:innen und Musiker:innen miteinander kombiniert. Ursprünglich in Friedenszeiten konzipiert, entstanden 2021 sechs Unikate, die den progressiven Geist der Kunst- und Clubszene der 3-Millionen-Metropole widerspiegeln.

Die Idee war zunächst unbeschwert: Jedes Jahr im Frühling feiert sich die Stadt. Kiew (sprich: KY-JIW, engl.: KY-IV) war zu diesem Zeitpunkt international bekannt für sein aufregendes Nachtleben entlang des Dnipro. Vor allem im postindustriellen Stadtteil Podil herrschte eine einzigartige von Kreativität und Offenheit geprägte Atmosphäre. Einige der Clubs, Konzert- und ungewöhnlichen Partylokalitäten, die dort aufpoppten, waren bald schon legendär. Und Kiew hatte einen eigenen Sound. Diese besondere Stimmung sollte eingefangen werden. Als Kunst im Format „Retro-Souvenir“.

Die drastische Veränderung der Situation seit dem Angriffskrieg im Februar 2022 hat zu einer Weiterführung des Projektes unter deutlich ernsteren Vorzeichen geführt.

Viele der ukrainischen Kolleg:innen von Hnylytska und Martynenko sind nun seit über zwei Jahren weitgehend von der internationalen Kunst- und Musikszene abgeschnitten. Aufträge an Kreative und Freiberufler:innen sind rar. Projekte, Auftritte, Ausstellungen außer- und innerhalb der Ukraine sind derzeit, speziell für männliche Akteure, nur äußerst eingeschränkt möglich.

Mit Hilfe des Emergency-Grant-Programmes des Goethe-Instituts und des Ukrainian Artists and Creatives-Support-Programmes der European Creative Hubs Network Association, wurden bei der Neuauflage des Projektes 2022/23 zahlreiche weitere Musiker:innen und Künstler:innen einbezogen.

Aktuell umfasst das Projekt 16 neue Karten, die nicht mehr ausschließlich Kiew, sondern auch anderen Städten und Regionen gewidmet sind. Das (engl.) KYIV-Logo auf den Rückseiten wurde aber bewusst beibehalten. Denn die Hauptstadt steht heute, mehr denn je, symbolisch für die gesamte Ukraine und für die dort Widerstand leistende Bevölkerung. Und es geht inzwischen weniger um einen bestimmten Ort, als vielmehr um eine gewisse Haltung.

Das Projekt möchte nicht an bessere Zeiten erinnern. Diese Auswahl an Abbildungen und Tonspuren ist nicht verklärt. Sie beschreibt einen besorgniserregenden Zustand und zeugt, mal leiser und mal lauter, mal direkter, mal subtiler, von der kollektiven Erfahrung Krieg.

Jede einzelne Klappkarte dieser Serie ist eine Media-Installation im Taschenformat. Ein autonomes Kunstwerk, in streng limitierter Auflage. Geöffnet, spielt jeder Audio-Track 1 Minute und 20 Sekunden, bevor er sich wiederholt.

Das gesamte Set an Karten und Tracks ergibt unweigerlich eine thematische Einheit, eine Art audiovisuelles Album. Dieses ist nun im Kunstraum München zu hören und zu sehen.

Ein Souvenir ist laut Wikipedia ein Gegenstand, der als Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, einen Ort oder eine Person mitgenommen und aufbewahrt wird. Diese Mitbringsel werden für sich und die Daheimgebliebenen meist käuflich erworben.

Das Projekt wird getragen vom Wunsch nach Unversehrtheit aller Kulturschaffenden.

Daher geht der Erlös vom Verkauf der limitierten Auflage ausschließlich an notleidende Künstler:innen und Musiker:innen in der Ukraine.

[Buchvorstellung und Performance] Schmarotzerbrücke. Ein temporäres Denkmal in 16 Stationen von Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez und Angela Stiegler

Die Publikation „Schmarotzerbrücke“ dokumentiert das gleichnamige Kunstprojekt im öffentlichen Raum, das von den Künstler:innen Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez und Angela Stiegler 2020-2021 mit anderen Bewohner:innen der damaligen Hilblestraße / heutigen Maria-Luiko-Straße in München Neuhausen durchgeführt wurde. Die Auseinandersetzung mit dem NS-belasteten Namensgeber Friedrich Hilble sowie der sozialen Struktur der Straße mündete im Sommer 2021 in einer performativen Parade. Im Rahmen dieser Parade erhielten 16 Orte auf der Straße neue Namen, die aus Gesprächen mit den Anwohner:innen entstanden waren. Die Straße trägt seit Herbst 2022 nach über zehnjähriger Debatte den Namen der jüdischen Künstlerin Maria Luiko.

Am 8. März 2024 schlagen die Künstler:innen einen Teil der „Schmarotzerbrücke“ in den Kunstraum und präsentieren sowohl die Publikation als auch mehrere Orte, die seit Sommer 2021 auf der heutigen Maria-Luiko-Straße neue Namen tragen. Anlässlich der Veranstaltung erscheint eine englische Übersetzung.

Schmarotzerbrücke – Ein temporäres Denkmal in 16 Stationen
Herausgeber:innen: Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez, Angela Stiegler
123 Seiten, 24 x 17 cm, mit 41 Abbildungen, 22 Zeichnungen
Texte: Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Angela Stiegler und Cordula Schütz
Fotos: Constanza Meléndez, u.a.
Gestaltung: Gabi Blum
Eigenverlag, München 2022, 1. Auflage: 420 Exp.

Das Projekt wurde unterstützt vom Kulturreferat der LHS München, dem Bezirksausschuss 9 Neuhausen-Nymphenburg und der Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung.

Fotos: Constanza Meléndez, Videos: Marianna Fakas