Modell Kunstraum. 50 Jahre Kunstraum München

»Modell Kunstraum. 50 Jahre Kunstraum München« versammelt schlaglichtartig eine Vielfalt von Materialien aus 50 Jahren Kunstraum München. Nachdem der Kunstraum in den 1970er und 1980er Jahren mit Ausstellungen und Publikationen von Richard Tuttle über Roni Horn bis Hanne Darboven reüssierte, wandte er sich seit den 1990ern neuen Konzepten von Gustav Metzger bis Michaela Melián sowie gesellschaftspolitischeren Projekten und Formaten wie »Das Mädchenzimmer« oder »R.E.P. Euro Renovation in Europe« zu. Das Buch bietet nicht nur einen Rückblick auf die Geschichte eines ehrenamtlich durch den Vorstand geleiteten Vereins. Kunsthistorische und kunstsoziologische Texte und Essays thematisieren Besonderheiten der Institutionsform Kunstverein und reflektieren Veränderungen des Kunstbetriebs über fünf Jahrzehnte. Das Materialkonvolut aus dem Archiv des Kunstraum ermöglicht diverse Zugänge zu Institutionsgeschichte und Diskursen seit 1973.

[Vorträge & Filme] Ein Nachmittag zu Hanne Darboven im Kunstraum

Am Samstag, den 25. November, ab 16 Uhr widmen wir uns mit einem Vortrag von Petra Lange-Berndt (Hamburg) sowie Filmen von Michael Liebelt (Hamburg) und Julia Gaisbacher (Wien), verschiedenen Aspekten von Hanne Darboven (1941–2009), ihrem Werk, ihrer künstlerischen Praxis und ihrem Leben an dem konkreten Ort im Süden Hamburgs, an dem sie von 1969 bis zu ihrem Tod gelebt und gearbeitet hat.

16.00 Uhr
Petra Lange-Berndt
Schreiben zwischen den Dingen 
Vortrag über die Arbeitsverfahren von Hanne Darboven und die Sammlungen der Künstlerin. Im Anschluss findet eine Diskussion mit der Kunsthistorikerin statt.
 
17.00 Uhr 
Michael Liebelt
Am Burgberg, 2000. 48 min
Ein Film mit Hanne Darboven 
Im Anschluss findet eine Diskussion mit dem Regisseur statt.
 
18.00 Uhr
Julia Gaisbacher
Hanne Darboven: Am Burgberg, 2023. 45 min
Im Anschluss findet eine Diskussion mit der Künstlerin statt.
 
Moderation: Luise Horn & Dietmar Rübel

Petra Lange-Berndt lehrt als Professorin für Moderne und zeitgenössische Kunst am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und vertritt eine undogmatische linke Kunstgeschichte. Darüber hinaus ist sie Autorin zahlreicher Bücher und arbeitet immer wieder als Gastkuratorin an verschiedenen Museen.
 


Michael Liebelt studierte nach einer Karriere als Kaufmann für Früchte und Knabberartikel an der Universität Hamburg Kunstgeschichte. 1995 gründete er zusammen mit seiner Frau Susanne die Liebelt-Stiftung, welche die Produktion, Präsentation und wissenschaftliche Erforschung von zeitgenössischer Kunst fördert. 
 


Julia Gaisbacher studierte zunächst Kunstgeschichte an der Universität Graz und anschließend Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste Dresden sowie der Sint-Lukas Kunstakademie in Brüssel. Ihre Arbeiten werden seit vielen Jahren in internationalen Ausstellungshäusern gezeigt und erhielten zahlreiche Preise.

Fotos © Olaf Pascheit, 2023

Ursula Neugebauer schwarzer Schnee

Die Berliner Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer schreibt ihr bereits 1998 begonnenes Projekt „schwarzer Schnee“ fort, für das sie wiederholt auf Spurensuche ins polnische Dzwonów (ehemals Schellendorff) gereist ist, dem Geburtsort ihrer Mutter, den diese nach ihrer Flucht 1945 nach Westdeutschland nie wieder besucht hat. Der Kunstraum dient der Künstlerin als Bühne, auf der die einzelnen Exponate im Zusammenspiel requisitenartig einen assoziativen Erinnerungs-Parkour bilden: Gesprächsaufnahmen sind zu sehen und hören, die dörfliche Umgebung wird performativ durchschritten, eine Baumscheibe der just gefällten Friedhofskastanie dient als Zeitachse, das historische Foto einer jungen Frau im Ruderboot schwebt fluide projiziert im Raum, ihr Rock stellt sich modellartig in den Weg und tritt in Korrespondenz mit seinen voluminös auf- und niederfahrenden „Geschwistern“.

Die Ausstellung wird kuratiert von Alexander Steig

Programm der Ausstellung:

Kuratorenführung
Freitag, 5. April 2024, 17:00 Uhr

Künstleringespräch und Katalogpräsentation mit Ursula Neugebauer und Alexander Steig
Sonntag, 12. Mai, 17:00 Uhr

Die Ausstellung wird gefördert durch eine Mitgliederspende und die Finbridge GmbH & Co KG.

At Kunstraum München, Ursula Neugebauer is showing her „black Snow“ project, which has been progressing since 1998 and for which she has repeatedly traveled to Dzwonów (PL), formerly Schellendorf, the birthplace of her mother, whom she never visited again after fleeing to West Germany in 1945. Neugebauer uses the rooms as a stage on which the individual exhibits interact like props to form an associative memory course: Recordings of conversations can be seen and heard, the village surroundings are performatively a tree slice from the cemetery chestnut tree felled in 2023 serves as a timeline, the historical photo of a young woman – the artist’s mother – in a rowing boat floats fluidly projected in the space, her skirt stands in the way like a model and enters into correspondence with its voluminous up and down and descending „siblings“. With „black Snow“, Ursula Neugebauer succeeds in transposing the subjective approach of this intimate research into a universal, over-private staging and uses her aesthetic vocabulary to confront the audience with concrete questions about the consequences of flight and displacement, the associated physical and psychological devastation of future generations, but also the idea of family, of belonging and self-empowerment in general. Through the constellation of the exhibits and their presence in the media, the artist creates a space for reflection, a temporary memorial that is both sensually and intuitively challenging, but also intellectually challenging and allows for the continuation of their own experiences.

Exhibition Program:

Guided tour with curator Alexander Steig
Friday, April 5, 2024, 5:00 p.m

Artist talk and book launch with Ursula Neugebauer and Alexander Steig
Sunday, May 12, 5:00 p.m.


Foto: Thomas Splett

Die in Berlin lebende und an der Universität der Künste Berlin lehrende Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer beschäftigt sich – mehrheitlich projektorientiert – mit gesellschaftlichen Wahrnehmungsprägungen und Zuschreibungstendenzen des (weiblichen) Körpers. Vorausgehende, umfängliche Recherchearbeit führt dabei zur Entnahme, Sammlung und Sichtung zunächst fragmentarischer (Fund-)Stücke, die als Dokumentationsvideos von Orten und Personen, als (Interview-)Texte, als „Körpermaterial“ (z. B. Haare, Bekleidung, Abformungen), als historische Materialzeugnisse (Fotografien, biologische Substrate, Kulturgüter), ergänzt um eigene skulpturale, kinetische und optische Beiträge, zu multimedialen Environments führen. Ihr Selbstbezug variiert graduell, dient aber immer als werkimmanente Matrix für einen offenen Zugang, führt uns Ursula Neugebauer doch in die Auseinandersetzung mit „zugewiesener“ Körperlichkeit und Rollenvergabe und deren Annahme wie Ablehnung.

Die tradierten Zwänge und Rituale, die „Korsagen“, die gerade durch deren Festschreibungen Stabilität und Orientierung versprechen wollen, werden durch den stofflichen Transformationsprozess der Künstlerin aus der soziologischen Debatte befreit und erfahren dabei eine Entlastung, d. h. Ursula Neugebauer überführt durch ihren persönlichen, teils privaten Zugang ihre Unternehmungen auf eine vielleicht poetisch zu nennende Ebene, schafft es, der Ernsthaftigkeit ihrer Themata ein positiv besetztes Moment zuzueignen, so dass – ob minimalistisch, wie ihre Haarzeichnungen und Glasgravuren, oder vital-ausufernd, wie ihre großflächigen Pflanzungen oder „tanzenden“ Stoffe, den Betrachter und Betrachterinnen ein zunächst eher intuitiver Zugang ermöglicht wird.

Für den Kunstraum München hat Ursula Neugebauer in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in der bayerischen Landesmetropole das bereits 1998 begonnenes Projekt „schwarzer Schnee“ fortgeschrieben, für das sie wiederholt auf Spurensuche ins polnische Dzwonów (ehemals Schellendorf) gereist ist, dem Geburtsort ihrer Mutter, den diese nach ihrer Flucht 1945 nach Westdeutschland nicht wieder aufgesucht hat. Neugebauer nähert sich deren Person, auch Persönlichkeit und Herkunft multimedial an und nutzt dafür die zwei Etagen des Hauses als Bühne: Im Erdgeschoss bewegen sich in lichtlosem Raum zwei schwarze, identisch anmutende Röcke asynchron in verschiedenen Tempi der titelgebenden (Ballett-)Figur „en l’air – à terre“ auf und ab. Aus den Röcken strahlen Lichtkreise, deren Kegel sich nach oben hin erweitern und nach unten hin verjüngen, um beim Aufsetzen der Kleidungsstücke gänzlich zu verschwinden, so dass der Raum in gewissen Momenten lichtlos schweigt – nur kurz, dann setzt sich das gleiche/ungleiche Paar wieder in Bewegung, beginnt den gravitätischen Lichttanz von neuem.

Den engen Aufstieg in das obere Stockwerk bekleiden und begleiten Wortkaskaden, genauer: Titel der zu erwartenden Arbeiten. Vogelgezwitscher und Stimmen rücken näher. Der Raum öffnet als Kaleidoskop, die einzelnen Exponate bilden im Zusammenspiel requisitenähnlich einen assoziativen Erinnerungsparcours. Die beiden Gesprächsaufnahmen, die Filmporträts von „Bogumila“ und „Felicja“, die im Treppenhaus anklangen, erzählen von deren eigener Umsiedlung aus der Ukraine Anfang der 1950er Jahre… Ihre Erinnerungen erzeugen zusammen mit dem „Naturkonzert“ der drei „Videofenster“ „Dorf“, „Friedhof“ und „Mohn“ und dem Rauschen eines Ventilators einen gedämpft pulsierenden Resonanzraum – bildlich wird die dörfliche Umgebung performativ durchschritten und historisch eingefangen, der schwarze Rock, dem wir dabei durch die mohnroten Felder folgen, stellt sich modellartig in den Weg, lässt uns beim Blick von oben ins Bodenlose, quasi durch die Decke in die Dunkelheit des Erdgeschosses schauen und tritt in Korrespondenz mit seinen voluminös auf- und niederfahrenden „Geschwistern“.

Eine Baumscheibe der just gefällten Friedhofskastanie dient als Zeitachse; dem zunächst naturwissenschaftlich anmutende Exponat wird durch exakte Fixierung über mäandernde Nadeln das Fluchtjahr rot eingeprägt und möchte über den „Jahresring 1945“, der keinen Kreis formt, Orientierung anbieten, doch gegenüber im Saal schwebt unstet das historische Foto einer jungen Frau im Ruderboot – die Mutter der Künstlerin –, fluide projiziert im Raum. Statik und Bewegung, Fort- und Rückschreiten vermeiden ein Festlegen, legen aber die Bezüge der Ereignisse bzw. Erscheinungen offen und sind auch hier Elemente, die der Vielschichtigkeit des Themas Rechnung tragen.

Neugebauer gelingt es mit „schwarzer Schnee“, den subjektiven Zugang dieser intimen Recherche in eine universelle, überprivate, zeitlos aktuelle Inszenierung zu transponieren. Mit ihrem ästhetischen Vokabular konfrontiert sie das Publikum mit konkreten Fragen zu den Folgen von Flucht und Vertreibung, den damit einhergehenden körperlichen wie seelischen Versehrungen auch nachkommender Generationen, aber auch mit der Idee von Familie, von Zugehörigkeit bis hin zur Selbstermächtigung allgemein. Die Künstlerin erschafft durch die Konstellation der Werke, deren fragmentierter Körperlichkeit, durch Multimedialität und materielle Heterogenität das Paradox eines ephemeren Erinnerungsortes, überführt den Kunstraum München in ein transitorisches Memorial, das sowohl sinnlich-intuitiv, aber eben auch intellektuell fordert und die Fortschreibung eigener Erfahrungen zulässt.

Ursula Neugebauer hat exklusiv für den Kunstraum die Edition „Meer ohne Horizont“ (Auflage: 12, Gravur in Glas, 29,7 x 21 cm, 2024) produziert, die während der Ausstellungszeit zum Subskriptionspreis von € 310,- (regulär: € 350,-) erworben werden kann. Zum Ende der Ausstellung legt die Künstlerin mit der gleichnamigen Publikation „Meer ohne Horizont“ (Verlag für moderne Kunst, Wien 2024) einen umfänglichen, von Cem Koc gestalteten Katalog vor, der neben „schwarzer Schnee“ vier weitere Projekte Neugebauers mit begleitenden Texten von Gerda Ridler, Matthias Reichelt und Alexander García Düttmann vorstellt.

Ursula Neugebauer (*1960) studierte Bildende Kunst an der Kunstakademie Münster sowie Literaturwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Sie unterrichtete zunächst als Studienrätin und arbeitete anschließend als Kunsttherapeutin an der Universitätsklinik Münster. Nach dreijähriger Dozentur am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Berlin lehrt sie seit 2003 als Professorin an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche nationale wie internationale Ausstellungen, Projekte und Beteiligungen, 2023 im Kunstraum Villa Friede, Bonn,
am Unique Art Center, Chengdu, China, im Q21 showrooms, MQ, Wien und auf der Chengdu Biennale, China.

Vorstellung der Kunstraum Archiv-Datenbank 

Der Kunstraum München hat im Jahr 2022 den Grundstein für sein stetig wachsendes digitales Archiv gelegt. Zum 50. Jubiläum des Kunstraum löst eine Datenbank die bisherige Online-Dokumentation von Ausstellungen, Veranstaltungen, Publikationen und Editionen in einer Blog-Struktur ab. Die datenbankbasierte Ordnung und Ablage ermöglicht es, Querverbindungen sichtbar und auch zugehörige Dokumente wie Einladungskarten, Pressemitteilungen oder andere Archivalien zugänglich zu machen.

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums 2023 geht die Datenbank online und wird im laufenden Jahr und in Zukunft kontinuierlich befüllt und erweitert.  Sie schafft so einen tieferen Einblick in die Geschichte der Institution für die interessierte Öffentlichkeit ebenso wie für die Mitglieder und ein gezielt forschendes Fachpublikum. 

Das Projekt des Digitalen Archivs wird gefördert durch die Kulturstiftung der Länder, die Stiftung Kunstfonds und NEUSTART KULTUR aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Stephanie Stein RUN RUN RUN

Für ihre Einzelausstellung RUN RUN RUN im Kunstraum München konzipiert die Künstlerin eine neue Serie ortsspezifischer Werke. Glas, Metall, Holz, von Hand aufgetragene Farboberflächen,Siebdruck, fotografische und typographische Manipulation sowie Bewegtbild bilden den Pool, auf den Stephanie Stein zurückgreift. Wie zeitüberdauernde Zeichen erinnern die sehr reduzierten Werke an architektonische Fragmente, Sprachräume oder Naturphänomene und lassen Assoziationen zu anthropologischen und naturgeschichtlichen Themenfeldern zu. Dabei geht es ihr um die wiederkehrenden Mechanismen von Macht und Gewalt – wie sich diese in gesellschaftlichen und politischen Strukturen manifestieren und inwiefern sie sich auf den Menschen und die Naturauswirken.

Der Schriftzug RUN eröffnet die Ausstellung. Klar steht er in schwarzen Lettern vor dem Ausschnitt einer historischen Bruchsteinwand mit einem fragmentierten Regenfallrohr. Die hier verwendete Serifenschrift entstammt der um 1900 entwickelten Century-Schriftfamilie und wird bis heute vom Supreme Court der USA für alle offiziellen Dokumente, wie Urteile oder Gesetzestexte, verwendet wird. Im künstlerischen Kontext wirft sie die Frage auf, wie sich Macht langfristig manifestiert, wie sich Hierarchien etablieren und kommunizieren lassen oder, mit Blick auf die Mauerfragmente, welche Rolle dabei Gebäuden zukommt, die für eine Ewigkeit bestimmt sind.

Besonders deutlich wird dieser Ansatz in den beiden jüngsten Rauminstallationen, die erstmals im Kunstraum München zu sehen sind: Im Ergeschoss scheinen einzelne Glasobjekte der jüngsten Arbeit Conitinuous Interest (2024) wie zarte, transparente Nadeln vertikal im Raum zu „schweben“, die Köpfe nach oben gestreckt, die länglichen, spitzen Körper gen Boden gerichtet. Diese organischen Gebilde wirken äußerst zerbrechlich und zugleich scharf, spitz und zu invasiven Nadelstichen fähig. Die Künstlerin ordet ihnen die Fotografie eines umgestürzten Baumes, uninterested (2024), zu, der natürlich gewachsene horizontale Bögen gebildet hat.

Im Obergeschoss schweben scherenschnittartige, äußerst fragile Vertikalen als überlebensgroße Raumzeichnungen knapp über dem Boden. Wie Arkaden, reduziert auf ihre minimalste Form, definieren sie den Raum und die Bewegungsmöglichkeiten der Betrachtenden neu. Als formale Referenzen erinnern sie einerseits an Bauten der Antike, andererseits an Herrschaftsarchitekturen der jüngeren Geschichte, die Erhabenheit und Macht demonstrieren sollen. Und auch der Titel dieser ortsspezifischen Arbeit Far From Hot Baths (2024) erinnert an ein antikes Epos, das Stephanie Steins zentrales Thema der Macht, aber auch der Wut und des Krieges behandelt – die Ilias. Die Künstlerin entlehnte ihn Simone Weils Text The Iliad or the Poem of Force (1939).

Stephanie Stein gelingt es durch minimale Verschiebungen oder ästhetische Entscheidungen umfangreiche Bedeutungsfelder zu öffnen, die ihr in der literarischen, historischen und kunsthistorischen Recherche begegnet sind. Das, was vordergründig ästhetisch schön und zugleich sehr zurückhaltend, fast unsichtbar scheint, offenbart bei näherer Betrachtung, wie eine strukturell bedingte Gewalt- oder Machtverteilung die Beziehungen zwischen Individuen, spezifischen gesellschaftlichen Gruppierungen und einer staatlichen Autorität prägt und wo die Bruchstellen dieser Systeme liegen. Durch ein solch subtile Geste – die Verwendung der bis heute durch den Supreme Court genutzten Century Schrift – wird auch der Ausstellungstitel RUN RUN RUN mehr und mehr zu einem beunruhigenden und warnenden Aufruf zur Flucht. Er bleibt zwar unbestimmt, aber nicht weniger eindringlich.

Stephanie Stein lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Werke waren in Gruppenausstellungen u. a. im KW Institute for Contemporary Art, Berlin, im Folkwang Museum Essen und im Museum Morsbroich in Leverkusen zu sehen und sind in internationalen Sammlungen, wie der Morris and Helen Belkin Art Gallery in Vancouver vertreten. Der Kunstraum München richtet Stephanie Steins zweite institutionelle Einzelausstellung aus.

Anlässlich der Ausstellung entsteht die erste umfangreiche Publikation zu ihrem Werk mit Texten von Nils Emmerichs, Alessa Rather, Friederike Schuler und Marcus Steinweg, die der Kunstraum zum Abschluss der Ausstellung am 2. März 2024 um 16 Uhr präsentieren wird.

Außerdem erscheint der Siebdruck RUN als Edition der Künstlerin.

Finissage und Buchpräsentation
Samstag, 2. März 2024, 16:00 Uhr

Kuratorische Präsenz
Sonntag, 3. März 2024, ab 14:00 Uhr

Die Ausstellung wird gefördert durch die Steiner-Stiftung München und die Richard Stury Stiftung.

For her solo exhibition RUN RUN RUN at Kunstraum München, the artist has conceived a new series of site-specific works. Glass, metal, wood, hand-applied paint surfaces, screen printing, photographic and typographic manipulation as well as moving images form the pool that Stephanie Stein draws on. Like timeless signs, the works are reminiscent of architectural fragments, linguistic spaces or natural phenomena and allow associations with anthropological and natural history themes. The recurring mechanisms of power and violence are her main interest – how these manifest themselves in social and political structures and the extent to which they affect people and nature.

The lettering „RUN“ opens the exhibition. It stands clearly in black letters in front of a section of a historic quarry stone wall with a fragmented downpipe. The serif font used here comes from the Century typeface family developed around 1900, which – originally developed for school textbooks – is today still in use by the US Supreme Court for all kind of official documents, such as judgments and legal texts. In an artistic context, it raises the question of how power manifests itself in the long term, how hierarchies can be established and communicated or what role is played by buildings that are destined to last forever.

This approach is particularly evident in the two latest spatial installations, which can be seen for the first time at Kunstraum München: In the first space individual glass objects of the latest work Conitinuous Interest (2024) seem to „float“ vertically in the room like delicate, transparent needles, their heads stretched upwards, their elongated, pointed bodies pointing towards the floor. These organic pieces seem quite fragile, but also sharp, pointed and capable of invasive pinpricks. The artist associates them with a photograph of a fallen tree, uninterested (2024), which has formed naturally grown horizontal arches.

On the upper floor silhouette-like, extremely fragile verticals float as larger-than life spatial drawings just above the ground. Like arcades, reduced to their most minimal form, they redefine the space and the viewer’s possibilities for movement. As formal references they reminiscent of buildings from antiquity on the one hand, and of stately architecture from more recent history on the other, intended to demonstrate grandeur and power. And also the title Far From Hot Baths of this site specific piece recalls an antique Epos dealing with Stephanie Steins central theme of power, but also anger and war– the Ilias. The artist borrowed it from Simone Weil’s text The Iliad or the Poem of Force (1939).

Through minimal shifts or aesthetic decisions, Stephanie Stein succeeds in opening up extensive fields of meaning that she has encountered in her literary, historical and art-historical research. What apparentely seems aesthetically beautiful and at the same time very restrained, almost invisible, reveals on closer inspection how a structurally determined distribution of violence or power shapes the relationships between individuals, specific social groups and a state authority – and where the breaking points of these systems lie.

Through such a subtle gesture – the use of the Century font still used by the Supreme Court today – the exhibition title RUN RUN RUN becomes more and more a disturbing and warning call to flee. It remains vague, but no less insistent.

Stephanie Stein lives and works in Berlin. Her works have been shown in group exhibitions at KW Institute for Contemporary Art, Berlin, Folkwang Museum Essen and Museum Morsbroich in Leverkusen, among others, and are represented in international collections such as the Morris and Helen Belkin Art Gallery in Vancouver. Kunstraum München is showing Stephanie Stein’s second institutional solo exhibition.

On the occasion of the exhibition, the first comprehensive publication on her work with texts by Nils Emmerichs, Alessa Rather, Friederike Schuler and Marcus Steinweg is published and will be presented at the end of the exhibition on March 2, 2024 at 4 pm.

Furthermore the silkscreen print RUN is published as an edition of 10.

Finissage and book presentation
Saturday, March 2, 2024

[Lange Nacht der Münchner Museen] Videoscreening

Wir möchten Sie herzlich zur Langen Nacht der Münchner Museen einladen!
Zu diesem Anlass bieten wir Ihnen noch einmal exklusiv die Möglichkeit, die Videoarbeit „THE MAELSTRÖM“ (Dauer 30 Min.) zu sehen. Diese „eindringliche Videoarbeit zum Thema Migration“ (SZ, 6. Oktober 2023) von Santiago Sierra wird während der Langen Nacht ab 18 Uhr immer zur vollen Stunde gezeigt, das letzte Mal um 23 Uhr.

[Gespräch] Künstlergespräch mit Franz Erhard Walther


Am Samstag, den 7. Oktober 2023, um 19:00 Uhr laden wir herzlich zum Künstlergespräch mit Franz Erhard Walther ein.

Am Sonntag, den 8. Oktober finden von 15–16 Uhr zuerst am Haus der Kunst (auf der Terrasse) und danach von 16:30–17:30 Uhr im Kunstraum Aktivierungen in Anwesenheit des Künstlers statt.

Franz Erhard Walther hat bereits durch Ausstellungen in den Jahren 1976 und 1982 in der Frühzeit des Kunstraum München die Geschichte des Ortes geprägt. An zwei Orten (Haus der Kunst und Kunstraum) werden nacheinander in Anwesenheit des Künstlers Aktivierungen von ausgewählten Objekten durch unterschiedliche Personengruppen vorgenommen. Insbesondere sind auch geflüchtete Personen dazu eingeladen, sich an den Aktivierungen zu beteiligen. Aber auch alle Besucher:innen haben die Möglichkeit, mit den aus Baumwollstoff gefertigten Objekten zu agieren und in der Handlung Teil des Werkes zu werden. Die Werke von Franz Erhard Walther (1939 geboren in Fulda) zeichnen sich durch ihre klare und miminalistische Formensprache aus, die die Betrachter:innen dazu einlädt, sich aktiv mit ihnen auseinandertzsetzen.

Im Kunstraum ist zudem das 30-minütige Video zu einer neuen Arbeit von Santiago Sierra („The Maelström“, 2023) zu sehen.

[Vortrag] VariaVision – Unendliche Fahrt und das Siemens-Studio für elektronische Musik, mit Michaela Melián

Michaela Melián, Künstlerin, Musikerin und Mitgründerin der Band F.S.K., realisierte mit ihren Videoinstallationen „Speicher“ und „Rückspiegel“ (beide 2008) eine Hommage an das verschollene Multimedia-Kunstwerk „VariaVision – Unendliche Fahrt“ von Alexander Kluge, Edgar Reitz und Josef Anton Riedl. Die für die Internationale Verkehrsausstellung 1965 in München entstandene Rauminstallation zum Thema Reisen bot eine neue Form der gleichzeitigen Wahrnehmung von Film, Musik und Sprache. Meliáns Vortrag gibt Einblick in ihre Recherchen im Archiv der HFG Ulm, erzählt die Geschichte des Siemens-Studio für elektronische Musik, in dem „VariaVision“ vertont wurde, und geht anhand von Interviewausschnitten mit Kluge, Reitz, Riedl sowie dem Künstler Kurd Alsleben und dem Toningenieur Hansjörg Wicha den audiovisuellen Utopien der 1960er Jahre nach. Des Weiteren spielt sie eigene Musikstücke vor, die auf Klängen basieren, die sie im Siemens-Studio, das sich seit 1994 in der Dauerausstellung des Deutschen Museums befindet, für den Soundtrack von „Speicher“ produzierte.

Im Rahmen der Ausstellung:

Studio Stadt. Peripherien elektronischer Musik
15. Juni – 23. Juli 2023

[Vortrag / Diskussion] Helle Fabrik, Dunkelkammer Produktion, mit Jochen Becker

Folgt man dem Philosophen und Künstler Daniel Rubinstein, so befinden wir uns in einer „Repräsentationsdämmerung“: Die Fotografie ist nicht mehr das Medium des Sichtbaren, sondern des Sichtbarmachens von Unsehbaren. Mehr dazu am kommenden Mittwoch.

Jochen Becker, Autor, Kurator, Dozent und Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs sowie der station urbaner kulturen der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) Berlin. Er gab zahlreiche diskursprägende Publikationen heraus, darunter Bignes? Size does matter. Image, Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt (b_books 2001) oder Kabul/Teheran 1979ff (2006 zus. mit Madeleine Bernstorff und Sandra Schäfer). Becker war künstlerischer Leiter des Global Prayers-Projekts am Berliner Haus der Kulturen der Welt. Für das Düsseldorfer Theater FFT entwickelte er das Projekt Stadt als Fabrik sowie Place Internationale (2017-21). URL: metrozones.info

Im Rahmen der Ausstellung:

Studio Stadt. Peripherien elektronischer Musik
15. Juni – 23. Juli 2023